Unkontrolliertes Verhalten

Tourette-Syndrom: Leben mit der Ticstörung

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Beim Tourette-Syndrom handelt es sich um eine neuropsychiatrische Krankheit, die sich durch das Auftreten motorischer und vokaler Tics äußert. Betroffene wiederholen also unwillkürlich verschiedene Bewegungen oder äußern bestimmte Worte oder Laute, ohne dies kontrollieren zu können. Welche Ursachen gibt es?

Tourette-Syndrom
© Getty Images/SensorSpot

Kurzübersicht: Häufige Fragen und Antworten

Was ist das Tourette-Syndrom? Es handelt sich um eine neuropsychiatrische Krankheit, bei der Betroffene unkontrolliert Bewegungen ausführen oder Geräusche von sich geben. Diese Symptome werden als Tics bezeichnet.

Was ist der Auslöser von Tourette? Die genauen Ursachen sind bislang nicht bekannt. Die Gene spielen eine zentrale Rolle, außerdem lassen sich Abweichungen in bestimmten Gehirnarealen sowie der Gehirnchemie ausmachen.

Was verschlimmert Tourette? Tics verstärken sich vor allem bei Stress.

Kann Tourette geheilt werden? Heilbar ist das Tourette-Syndrom nicht, bei vielen Betroffenen bilden sich die Tics jedoch mit dem Erwachsenwerden bis zu Symptomfreiheit zurück. Daneben können verschiedene Therapieansätze helfen, die Tics besser zu kontrollieren.

Im Überblick:

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Was ist das Tourette-Syndrom?

Das Tourette-Syndrom ist eine neuropsychiatrische Erkrankung, die sich durch das Auftreten von Tics äußert und zu den Ticstörungen zählt.

Bei einem Tic handelt es sich um unwillkürliche, also nicht willentlich gesteuerte, Bewegungen (motorisch) oder Lautäußerungen (vokal).  Für die Stellung der Diagnose müssen mindestens zwei motorische Tics und ein vokaler Tic vorliegen. Die Tics können dabei wiederholt einzeln oder in Serie auftreten.

Das chronisch verlaufende Störungsbild beginnt meist schon im Grundschulalter, also mit sieben bis acht Jahren. Manchmal treten die Tics auch erst in der Jugend auf, immer aber vor dem 21. Lebensjahr. Jungen entwickeln die Störung etwa zehnmal häufiger als Mädchen. Weltweit sind Studien zufolge rund 0,5 bis 1 Prozent der Menschen betroffen, womit die Störung recht häufig ist.

Der Name geht auf den französischen Neurologen George Gilles de la Tourette zurück, der die Krankheit 1885 erstmals beschrieb. Vorher wurde das Tourette-Syndrom fälschlicherweise als Epilepsie gedeutet.

Tourette-Syndrom: Ursachen der Ticstörung

Die genaue Ursache des Tourette-Syndroms ist bis heute nicht geklärt. Fachleute gehen jedoch von einer neuronalen Entwicklungsstörung aus, welche eine Beeinträchtigung der Bewegungskontrolle zufolge hat. Diese Annahme wird auch von Abweichungen in bestimmten Gehirnregionen bei Menschen mit dem Tourette-Syndrom gestützt. Betroffen sind vor allem der Thalamus und die Basalganglien, welche für die Bewegungskoordination essenziell sind. Daneben spielt auch eine Störung von Botenstoffen im Gehirn, vor allem Dopamin, eine Rolle.

Dass die Entstehung der Erkrankung durch die Gene beeinflusst wird, ist wissenschaftlich gesichert. Nicht zuletzt deshalb, weil Kinder, bei denen ein Elternteil an Tourette erkrankt ist, mit bis zu 50 Prozent Wahrscheinlichkeit ebenfalls erkranken. Söhne haben dabei ein viermal höheres Risiko als Töchter. Doch nicht jedes Kind, das die entsprechende genetische Veranlagung besitzt, entwickelt ein behandlungsbedürftiges Krankheitsbild der Tourette-Störung.

Deshalb gehen Fachleute davon aus, dass noch weitere Risikofaktoren für Krankheitsentstehung zusammenkommen müssen.

Zu den Risikofaktoren zählen:

  • psychosozialer Stress in der Schwangerschaft und in der frühen Kindheit
  • Sauerstoffmangel bei der Geburt
  • Frühgeburt
  • Rauchen, Alkohol, Drogen oder Medikamentenmissbrauch in der Schwangerschaft
  • bakterielle Infektionen mit Streptokokken der Gruppe A (beispielsweise Mittelohrentzündung, Angina, Scharlach)

Symptome des Tourette-Syndroms

Hauptsymptom des Tourette-Syndroms ist das Auftreten von Tics. Dabei werden einfache und komplexe motorische und vokale Tics unterschieden. Motorische Tics treten oft im Bereich des Kopfes auf, Beispiele sind etwa Blinzeln oder Nicken. Vokale Tics sind Geräusche wie Silben. Tics können in Serie ausgeübt werden oder vereinzelt.

Erwachsene Patient*innen verspüren vor dem Tic oftmals ein sogenanntes Vorgefühl, dass sich durch inneren Druck und beispielsweise Wärme äußert. So kündigt sich der Tic ähnlich wie bei einem Niesen an. Bei Kindern ist dies jedoch eher selten. Deshalb können erwachsene Personen in der Regel ihre Tics besser kontrollieren.

Komplexe Tics kommen in der Regel nur bei schwerer Ausprägung des Tourette-Syndroms vor. Dabei sind mehrere Muskelgruppen beteiligt oder es werden mehrere Silben und Wörter ausgerufen. Diese starke Form, bei der obszöne Schimpfwörter und ähnliches ausgestoßen werden, liegt nur in zehn bis 20 Prozent der Fälle vor.

Einfache motorische und vokale Tics

Einfache motorische Tics Einfache vokale Tics
Augenblinzeln Husten
Augenbewegungen Schnüffeln
Nasenbewegungen Räuspern
Mundbewegungen Grunzen
Gesichtsgrimassen Pfeifen
Kopfschleudern Tierlaute, Vogellaute
Schulterziehen  
Armbewegungen  
Handbewegungen  
Beinbewegungen  
Fuß- oder Zehenbewegungen  

Komplexe motorische und vokale Tics

Komplexe motorische Tics Komplexe vokale Tics
Gesten oder Bewegungen der Augen Silben
Gesten/Bewegungen mit dem Kopf Wörter
Gesten mit Arm oder Hand Ungewolltes Aussprechen aggressiver oder obszöner Begriffe bzw. Schimpfwörter (Koprolalie)
Mundbewegungen Ein- oder mehrmaliges zwanghaftes Nachsprechen von Wörtern oder Sätzen
Gesten mit der Schulter Häufiges Wiederholen von selbstgesprochenen Worten
Beugen oder sich winden Blockierungen
Rotieren um die eigene Achse Atypische Sprachanwendungen
Zeigen unwillkürlicher, obszöner Gesten (Kopropraxie) Enthemmte Sprache
Selbstverletzendes Verhalten  
Imitieren/Nachahmen von Bewegungen (Echopraxie)  

Faktoren, die Tics verstärken

Tics treten vermehrt unter Stress auf. Sind Betroffene sehr fokussiert und konzentriert verschwinden sie vorerst, kehren dann aber in einer Entspannungsphase verstärkt zurück.

In einer vertrauten Umgebung, zum Beispiel in der Familie oder unter Freunden, lassen Betroffene ihren Tics freien Lauf und unterdrücken sie nicht, wie im Job oder in der Schule.

Begleiterkrankungen beim Tourette-Syndrom

Betroffene mit Tourette-Syndrom leiden in den allermeisten Fällen (80 bis 90 Prozent) auch an anderen psychischen Symptomen oder Erkrankungen wie Depressionen, Zwangsstörungen oder Schlafstörungen. 50 bis 75 Prozent aller Kinder mit Tourette-Syndrom leiden zusätzlich an ADHS.

Diagnose: Wie wird das Tourette-Syndrom festgestellt?

Es gibt keine spezielle Untersuchung, mit der sich das Tourette-Syndrom sicher diagnostizieren lässt. Die Diagnose stellen Ärzt*innen, anhand der Symptome sowie dem bisherigen Krankheitsverlauf.

Liegt das Syndrom vor, müssen motorische Tics in Form von Muskelzuckungen sowie ein oder mehrere vokale Tics vorhanden sein. Fragebögen und Schätzskalen helfen, die Art und den Schweregrad der Tic-Störung einzuschätzen und andere Bewegungsstörungen auszuschließen.

Es gibt spezielle Diagnosekriterien für Tic-Störungen auf Grundlage von ICD-10, nach denen folgende Kriterien vorliegen müssen, um von einem Tourette-Syndrom sprechen zu können:

  • mindestens zwei motorische und ein vokaler Tic
  • Beginn im Kindes- oder Jugendalter
  • Dauer von mindestens einem Jahr (mit möglicher Unterbrechung)
  • Schwanken (Fluktuationen) der Tics im Verlauf

Mittels verschiedener neurologischer Untersuchungen wie einem Elektroenzephalogramm lassen sich andere Krankheiten als Ursache für die Tics ausschließen.

Therapie des Tourette-Syndroms

Das Tourette-Syndrom ist nicht heilbar. Da viele Patient*innen allerdings kaum in ihrem Alltag eingeschränkt sind, bedarf es auch nur selten einer Behandlung.

In stark ausgeprägten Fällen kann eine Therapie jedoch sinnvoll sein. Die Behandlung des Tourette-Syndroms besteht aus einer Kombination verschiedener Ansätze. Eine gezielte Therapie der Tics ist etwa nötig, wenn es durch sie zu Schmerzen, Schlafstörungen oder Leistungsbeeinträchtigung kommt. Auch wenn der Leidensdruck hoch ist, etwa aufgrund von Mobbing in der Schule, kann eine Behandlung sinnvoll sein.

Ein besonders wichtiger Baustein der Therapie ist die Psychoedukation, also das Wissen und die Aufklärung über die Erkrankung. Das gilt für Betroffenen selbst, aber auch für das Umfeld, wie die Familie oder Schule. Dadurch können aus der Erkrankung resultierende Folgen wie soziale Ängste vermieden werden.

Medikamentöse Behandlung

Je nach Ausprägung der Tics beim Tourette-Syndrom können sie medikamentös behandelt und abgemildert werden. Infrage kommen:

  • Benzamide, wie Tiaprid und Sulpirid

  • atypischen Antipsychotika, wie Risperidon und Aripiprazol.

  • klassiche Antipsychotika, Halperidol und Pimozid

Wenn diese Medikamente nicht gegen die Tics helfen oder aus anderen Gründen nicht eingesetzt werden können, kommen Tetrabenazin (Dopaminspeicherentleerer), Topiramat (Antiepileptikum) oder Tetrahydrocannabinol (THC aus der Cannabis-Pflanze) in Betracht. Liegt gleichzeitig ADHS vor, sind infrage kommende Medikamente Clonidin, Guanfacin und Atomoxetin.

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Nichtmedikamentöse Behandlung

Beim Tourette-Syndrom ist eine Psychotherapie sinnvoll. Besonders bewährt haben sich das Habit Reversal Training (HRT) sowie das „Exposure and Response Prevention Training“ (ERPT) aus der Verhaltenstherapie.

  • Habit Reversal Training: Alternative Verhaltensweisen statt des Tics werden eingeübt. Wichtig ist, dass Betroffene lernen auf ihr Vorgefühl zu achten und dann statt des Tics eine andere Reaktion auszuführen.

  • Exposure and Response Prevention Training: Auch hier spielt das Vorgefühle eine zentrale Rolle. Personen mit der Ticstörung lernen, dass auf das Vorgefühl nicht immer ein Tic folgen muss, und können ihn deshalb besser unterdrücken.

Dabei wird also die Selbstwahrnehmung gefördert und erlernt, automatisiert ablaufende Handlungen durch aktives Eingreifen zu unterbrechen. Mit dieser Technik können die Tics bis zu 35 Prozent reduziert werden. Allerdings ist sie in der Regel erst für Kinder ab zehn Jahren geeignet, da kleine Patient*innen seltener ein Vorgefühl verspüren.

Als begleitende Behandlung ist das Erlernen der Entspannungstechnik Progressive Muskelentspannung nach Jacobson sinnvoll. Auch eine Selbsthilfegruppe kann Betroffenen dabei unterstützen, mit der Erkrankung umzugehen.

Nur in sehr seltenen Fällen, wenn keine medikamentöse Behandlung hilft, ist eine Operation (Tiefe Hirnstimulation) notwendig, um schwerste Tics und Selbstverletzungen zu verhindern.

Prognose und Verlauf bei Tourette

Das Tourette-Syndrom lässt sich nicht heilen und verläuft normalerweise in verschiedenen Phasen, in denen die Tics unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Der Beginn der Erkrankung liegt meist vor dem zehnten Lebensjahr. Der Erkrankungsgipfel ist in der Regel im Alter von zwölf Jahren erreicht, ab dem Alter von 14 bis 15 Jahren nimmt die Ausprägung der Tics deutlich ab. Einige Betroffene werden vollkommen symptomfrei (Angaben schwanken zwischen 20 bis 70 Prozent).

Meistens schränkt das Tourette-Syndrom Betroffene nicht deutlich ein, sie können einen Beruf ausüben und ein normales Leben führen.

Betroffene Kinder sollten kinder- und jugendpsychologisch betreut werden. Ein Großteil entwickelt im Verlauf des Tourette-Syndroms weitere Erkrankungsbilder beziehungsweise Auffälligkeiten:

  • geringe Frustrationstoleranz und Lernprobleme

  • Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS)

  • Zwangsstörungen

  • Schlafstörungen

  • Depressionen

  • Angststörungen

  • Soziale Phobien

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