Stockholm-Syndrom: Wenn Geiseln Sympathie für ihre Entführer entwickeln
Das Stockholm-Syndrom beschreibt ein Phänomen, bei dem Opfer von Geiselnahmen ein positives emotionales Verhältnis zu den Personen, die sie entführen, aufbauen. Dies kann bis hin zur Verliebtheit oder freiwilligen Unterwerfung und zu einer Art Allianz zwischen Opfer und Straffälligen führen. Wie lässt sich das Verhalten der Gefangenen erklären?
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Es ist ein beliebtes Thema in Krimi-Filmen oder Serien: Die Opfer sympathisieren mit ihren Geiselnehmer*innen. In der Serie "Haus des Geldes" verliebt sich beispielsweise die Bankangestellte Mónica in den Einbrecher Denver und erhält von den Kriminellen sogar passenderweise den Decknamen "Stockholm". Die schwedische Miniserie Clark widmet sich dem Bankräuber Clark Olofsson, auf dessen Geschichte der Begriff Stockholm-Syndrom zurückgeht. Aber auch in der Realität kann das Stockholm-Syndrom immer wieder beobachtet werden. Was genau sind die Gründe dafür?
Artikelinhalte im Überblick:
- Was ist das Stockholm-Syndrom?
- Merkmale des Syndroms
- Herkunft der Bezeichnung
- Ursachen
- Folgen & Therapie
- Bekannte Beispiele
Was ist das Stockholm-Syndrom?
Beim Stockholm-Syndrom handelt es sich um ein psychologisches Abhängigkeitsverhalten, bei dem Opfer ein positives Verhältnis und sogar Sympathie für den Aggressor entwickeln. Das Phänomen wird häufig bei Opfern von Geiselnahmen, Kriegsgefangenschaft oder Entführungen beobachtet. Die psychische Reaktion kann aber auch in Fällen von Kindesmissbrauch, sexuellem Missbrauch oder bei Mitgliedern von Sekten auftreten.
Das Stockholm-Syndrom wird viel in den Medien diskutiert, allerdings handelt es sich nicht um einen wissenschaftlich fundierten Begriff. Die Störung wurde bisher in keinem diagnostischen und statistischen Leitfaden psychischer Störungen aufgeführt und kann nicht als eigenständige Erkrankung betrachtet werden. Vielmehr wird es als eine Reihe von emotionalen Aktivierungen angesehen, die für Personen nach besonders traumatischen Erlebnissen charakteristisch sein können.
Das Gegenstück des Stockholm-Syndroms ist das Lima-Syndrom. In diesem Fall entwickelt der*die Täter*in Sympathie für das Opfer.
Merkmale des Stockholm-Syndroms
Bei einem Stockholm-Syndrom gehen Opfer mit Täter*innen eine Art Notgemeinschaft ein. Ihr Verhalten lässt sich nicht mit Logik erklären, vielmehr handelt es sich um einen Selbstschutz. Dabei sind folgende Erscheinungsformen typisch:
- Identifikation mit den Unterdrückenden
- Entwicklung positiver Gefühle gegenüber Aggressoren (Freundschaft oder sogar Liebe)
- Verständnis für Tat-Motive
- Unterstützung bei der Zielerreichung (zum Beispiel durch Anlügen der Polizei)
- Angst oder Misstrauen gegenüber der Polizei, Rettungskräften oder andere Personen, die eine Befreiung anstreben
- Bagatellisierung des Verbrechens im Nachhinein
- Schuldgefühle und Reue über die Freilassung, während der*die Täter*in im Gefängnis ist
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Ursprung des Stockholm-Syndroms
Der Begriff Stockholm-Syndrom ist auf eine Geiselnahme in der Hauptstadt Schwedens 1973 in einer Kreditbank auf dem Platz Norrmalmstorg zurückzuführen. Bei dem Banküberfall im Zentrum Stockholms verbarrikadierten sich die beiden Bankräuber Jan-Erik Olsson und Clark Olofsson mit vier Angestellten vor der Polizei in einem Tresorraum. Die Geiselnahme dauerte 131 Stunden und erlangte große mediale Aufmerksamkeit. Erstmals wurde dabei über die Gefühle der Opfer berichtet.
Überraschenderweise stellte sich heraus, dass die Geiseln eine größere Angst vor der Polizei als vor den Geiselnehmern entwickelten. Auch nach der Befreiung empfanden sie keinen Hass gegen die Männer, sondern baten sogar um Gnade für die Täter und besuchten sie im Gefängnis. Die damals 23-jährige Geisel Kristin Enmark verliebte sich sogar in Clark Olofsson.
Fälschlicherweise wird das Stockholm-Syndrom manchmal auch als Helsinki-Syndrom bezeichnet. Der Grund: In einigen Hollywood-Filmen wie "Stirb langsam" oder "Knockin’ on Heaven’s Door" werden die schwedische Hauptstadt Stockholm und die finnische Hauptstadt Helsinki verwechselt.
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Wie entsteht das Stockholm-Syndrom?
Das Stockholm-Syndrom ist bisher nur wenig erforscht. Aber wie kann erklärt werden, dass ein Opfer Sympathie für einen Menschen entwickelt, der ihm*ihr Schlimmes antut? Die Psychologie bietet verschiedene Erklärungsansätze für die Entstehung des Phänomens. Fachleute gehen davon aus, dass vermutlich folgende Faktoren eine Rolle spielen.
Unbewusster Schutzmechanismus: Geiseln befinden sich in einer Ausnahmesituation mit komplettem Kontrollverlust und haben Angst um ihr Leben. Sie freunden sich mit Täter*innen an, weil es für sie in dieser Situation am vorteilhaftesten ist. Dadurch versuchen sie vermutlich unbewusst, Sympathie oder Mitleid des Aggressors zu erzeugen (Lima-Syndrom) – auch um Bestrafungen zu verhindern.
Regression: Betroffene haben die Hoffnung auf Rettung aufgegeben und fühlen sich hilflos. Es besteht eine extreme Abhängigkeit zu den Geiselnehmer*innen. Wie Kinder auf ihre Eltern, sind die Opfer auf ihre Kidnapper*innen angewiesen. Sie bekommen von ihnen Nahrung und werden von der Außenwelt – meist der Polizei – beschützt. Bereits kleine Zugeständnisse (zum Beispiel Erlaubnis, auf Toilette zu gehen) werden mit großer Dankbarkeit aufgenommen.
Positiver Umgang und Gruppenbildung: Vor allem, wenn Opfer viel Zeit mit den Entführer*innen verbringen, entsteht oft eine positive Beziehung. Unter Umständen muss das Opfer Handlungspraktiken für Täter*innen ausführen (zum Beispiel Kontakt mit der Polizei aufnehmen) und fühlt sich daher der Gruppe zugehörig.
Einsichtsbildung und Perspektivübernahme: Opfer erhalten Informationen, die Einsicht in die Motive der Gewalttat ermöglichen. Da der Aggressor meist die einzige Bezugsperson ist und eine Zurückhaltung der (rettenden) Einsatzkräfte vor Ort wahrgenommen wird, kommt es zu einer Wahrnehmungsverzerrung: Ängste werden nicht auf Täter*innen, sondern Rettungskräfte oder die Polizei projiziert. Je stärker das Gefühl, allein gelassen zu werden, oder der Druck von außen ist, desto wahrscheinlicher kommt es zu einer Identifikation mit den Entführer*innen. Mit der Parteinahme für diese wird vermutlich auch versucht, die fehlende Fähigkeit zur Selbstverteidigung zu rechtfertigen.
Weitere Einflussfaktoren für Geiselreaktion
Nicht jedes Opfer einer Geiselnahme oder anderer traumatischer Erlebnisse entwickelt ein Stockholm-Syndrom. Ob es zu einem solchen Phänomen kommt, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. Dazu gehören unter anderem:
- Art der Interaktion: Gab es einen positiven Kontakt und eine gute Versorgung in der Gefangenschaft? Kam es zu Bedrohungen oder körperlichen Misshandlungen?
- Persönlichkeit der Geisel: Hat der*die Betroffene eine abhängige Persönlichkeitsstruktur?
- Kenntnisse über Täter*innen: Ersttäter*in oder schon häufigere Gewaltverbrechen? Einzeltäter*in oder Mittäter*in? Politisch oder kriminell motiviert? Psychische Erkrankung? Familienstand?
- Zeit: Dauerte die Extremsituation Tage, Wochen oder mehrere Jahre?
- Verhalten der Polizei: Wie sind die polizeilichen Maßnahmen beziehungsweise wie werden diese wahrgenommen?
- Räumliche Faktoren: Wo findet die Gewalttat statt? Im In- oder Ausland? An einem oder mehreren Orten?
- Anzahl der Opfer und Täter*innen: Eine oder mehrere Geiseln?
Folgen und Therapie des Stockholm-Syndroms
Nach einem traumatischen Erlebnis wie einer Geiselnahme gestaltet sich die Rückkehr in den Alltag für Betroffene oftmals sehr schwer. In einigen Fällen hegen die Geiseln auch noch Jahre nach der Tat positive Gefühle gegenüber den Täter*innen, nehmen sie vor Gericht in Schutz oder besuchen sie später im Gefängnis. Den Helfenden wie der Polizei stehen sie hingegen feindlich gegenüber. Andererseits kann die Erfahrung von Gewalt bei Betroffenen ebenfalls zu Schlafstörungen, Albträumen, Phobien und Depressionen führen.
Für die Aufarbeitung der Geschehnisse ist eine Psychotherapie empfehlenswert. Diese kann Betroffenen beispielsweise helfen zu verstehen, weshalb sie eine Sympathie für Täter*innen entwickelt haben – und dass dies kein Grund ist, sich zu schämen.
Bekannte Beispiele des Stockholm-Syndroms
Neben dem Banküberfall in Schweden gab es in der Vergangenheit noch weitere Geiselnahmen, bei denen Anzeichen eines Stockholm-Syndroms beobachtet wurden. Einige Beispiele:
1958: Schon bevor es den Begriff überhaupt gab, kam es zu einem Fall des Stockholm-Syndroms. Der Rennfahrer Juan Manuel Fangio wurde im Jahr 1958 von dem kubanischen Rebellen Fidel Castro entführt. Der Sportler berichtete später, dass er mit seinem Geiselnehmer den Grand Prix von Havanna verfolgte.
1974 wurde die Enkelin des US-Zeitungszars William Randolph Hearst entführt. Patty Hearst wurde körperlich und sexuell missbraucht. Dennoch lief sie zu ihren Kidnappern über. Sie wurde selbst zur Bankräuberin und musste sich später vor Gericht verantworten.
1988 kam es in Deutschland zum Geiseldrama von Gladbeck. Zwei Männer überfielen eine Deutsche Bank-Filiale und nahmen anschließend mehrere Geiseln. Auch hier konnten Anzeichen eines Stockholm-Syndroms festgestellt werden. Einige Geiseln kooperierten mit den Entführern und schlugen sogar Tricks vor, um die Polizei zu täuschen
2003 wurden 17 Tourist*innen in der Sahara von der "Gruppe für Predigt und Kampf" 54 Tage lang festgenommen. Nach dem Ende der Gefangenschaft äußerten sich die Geiseln allerdings milde über ihre Entführer. Ein deutsches Paar, das sich unter den Gefangenen befand, bekam von einem der Entführer später sogar Glückwünsche zur Hochzeit.
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