Prader-Willi-Syndrom: Entwicklungsstörung mit unstillbarem Hunger
Beim Prader-Willi-Syndrom handelt es sich um eine seltene, genetisch bedingte Behinderung. Hauptmerkmale sind Muskelschwäche, Kleinwüchsigkeit und ein fehlendes Sättigungsgefühl, das nicht selten zur Fettleibigkeit führt. Erfahren Sie mehr über Symptome, Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten.
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Das Prader-Willi-Syndrom (kurz: PWS) ist nach der Schweizer Kinderärztin Andrea Prader und dem Kinderarzt Heinrich Willi benannt, welche die genetische Erkrankung 1956 erstmals beschrieben haben. Schätzungsweise 1 von 15.000 Kindern kommt mit der Erbkrankheit zur Welt. Vor allem durch eine frühzeitige psychosoziale Unterstützung sowie Hormontherapie hat sich das Leben von Menschen mit PWS in den letzten Jahren erheblich verbessert.
Artikelinhalte auf einen Blick:
Wie entsteht das Prader-Willi-Syndrom?
Verantwortlich für die Erkrankung ist ein defektes Gen auf dem Chromosom 15. In etwa 70 Prozent der Fälle fehlt ein vom Vater geerbtes Stück des Chromosoms 15 (paternale Deletion). Bei ungefähr 30 Prozent der Erkrankungen liegen Probleme mit der Struktur und Funktion des Chromosoms vor. Weil das Syndrom eine genetische Ursache hat, spricht man auch von einer Erbkrankheit.
Der Gendefekt hat Veränderungen von Prozessen im Zwischenhirn – genauer gesagt dem Hypothalamus – zur Folge. Dieser Teil des Gehirns fungiert als wichtige Schaltzentrale des Körpers und ist unter anderem für die Regulierung der Nahrungsaufnahme, die Steuerung von Gefühl- und Sexualverhalten sowie die Produktion von Wachstumshormonen verantwortlich.
Wie äußert sich das Prader-Willi-Syndrom?
Das Prader-Willi-Syndrom macht sich meist schon im Säuglingsalter bemerkbar. Neugeborene wirken sehr lethargisch, sind auffällig still und schlafen viel. Das Füttern ist oft sehr mühevoll, da Babys mit PWS kaum Saugen und Schlucken. Dementsprechend sind sie oft untergewichtig, was unter Umständen eine Ernährung durch eine Magensonde erforderlich macht.
Das Gewichtsproblem ändert sich im Alter von zwei bis drei Jahren meist grundlegend: Denn dann entwickeln Kinder mit PWS geradezu eine Esssucht. Da sie kein Sättigungsgefühl verspüren und weniger bewegungsfreudiger als andere Kinder sind, besteht ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von enormem Übergewicht (Adipositas).
Weitere PWS-Merkmale sind:
Muskelhypotonie: Mit der Zeit werden Kinder kräftiger, eine gewisse Muskelschwäche bleibt dennoch meist bestehen. In Verbindung mit Adipositas kann sich ein Rundrücken mit Wirbelsäulenverkrümmung entwickeln.
Verhaltensauffälligkeiten: Vor allem ab dem Schulalter reagieren Menschen mit Prader-Willi-Syndrom manchmal trotzig und jähzornig und lassen sich nur schwer wieder beruhigen. Auslöser sind unvorhergesehene Veränderungen im Tagesablauf oder neue Situationen, da sie klare Strukturen und Rituale bevorzugen. Mit der Pubertät nehmen Wutausbrüche ab, dafür leiden viele unter depressiven Phasen.
Kleinwuchs: Das verzögerte Wachstum macht sich bereits im Kleinkindalter bemerkbar; Frauen mit PWS erreichen im Durchschnitt eine Körpergröße von 146 Zentimeter, Männer 152 Zentimeter.
Unterentwicklung der Geschlechtsorgane: Bei Jungen kommt es oft zu Hodenhochstand, bei Mädchen zu unterentwickelten Schamlippen. Menschen mit PWS sind oftmals unfruchtbar.
kognitive Beeinträchtigungen: Die Intelligenz ist oft vermindert. Besonders die Entwicklung von Sprach- und grobmotorischen Fähigkeiten verläuft bei Kindern mit PWS meist verzögert.
Die Bandbreite und Schweregrade der Störungen können wie beim Down-Syndrom sehr unterschiedlich ausgeprägt sein.
Wie wird das Prader-Willi-Syndrom festgestellt?
Bereits während der Schwangerschaft wird meist bemerkt, dass Babys mit PWS inaktiver sind als andere Föten – sie bewegen sich weniger im mütterlichen Bauch. Darüber hinaus lassen körperliche Merkmale des Neugeborenen nach der Geburt einen Gendefekt vermuten:
- das Geburtsgewicht ist sehr niedrig
- es besteht eine ausgeprägte Muskel- und Trinkschwäche
- das Gesicht ist schmal, die Augen mandelförmig
- der Schädel ist oft länglich, Hände und Füße sehr klein
- der Mund weist eine dreieckige Ausprägung auf
- Haut und Haare sind meist heller als von Vater und Mutter
- die Wirbelsäule kann S-förmig verbogen sein
Klarheit verschafft ein sogenannter Methylierungstest (spezielle genetische Untersuchung). Hierfür werden nur wenige Milliliter Blut des Neugeborenen benötigt, die dann im Labor untersucht werden. So wird die Diagnose in der Regel bereits in der ersten Lebenswoche gestellt.
Vorgeburtliche Diagnostik
Seit 1993 kann das Prader-Willi-Syndrom mittels Pränataldiagnostik bereits in der Schwangerschaft frühzeitig festgestellt werden. Eine solche Untersuchung wird meist im letzten Trimester durchgeführt, wenn verminderte Bewegungen des Kindes oder Wachstumsstörungen vermutet werden. Auch wenn beispielsweise bereits ein Fall in der Familie bekannt ist, können vorgeburtliche Untersuchungen veranlasst werden.
Therapie: Wie wird das Prader-Willi-Syndrom behandelt?
Das Prader-Willi-Syndrom ist nicht heilbar, allerdings lässt sich das Leben von Erkrankten durch eine Vielzahl von Therapien und Maßnahmen deutlich verbessern:
Hormontherapie
Seit einigen Jahren wird bereits im Säuglingsalter mit der Gabe von Wachstumshormonen begonnen. Dadurch profitiert vor allem die körperliche Entwicklung von Menschen mit PWS. Studien weisen zudem darauf hin, dass sich der frühzeitige Beginn der Therapie positiv auf Verhaltensstörungen, die Sprachentwicklung und die Schlafqualität auswirke. Die Behandlung wird meist bis ins Erwachsenenalter fortgesetzt, dann erhalten Betroffene eine verringerte Dosis.
Wie bei anderen medikamentösen Therapien sind bei der Einnahme von Hormonen Nebenwirkungen möglich. Dazu gehören beispielsweise Wassereinlagerungen an den Füßen oder Atemnot. Um den Fortschritt der Behandlung zu überwachen und Nebenwirkungen festzustellen, sind regelmäßige ärztliche Kontrollen notwendig.
Ernährung
Eine große Herausforderung beim PWS ist der oft unstillbare Appetit der Betroffenen. Um Übergewicht und Folgeschäden wie Diabetes mellitus zu vermeiden, müssen Kinder frühzeitig den Umgang mit Nahrungsmitteln lernen. Menschen mit Prader-Willi-Syndrom sind oft sehr erfinderisch darin, an Essen zu gelangen. Eltern sollten daher die Nahrungsaufnahme streng kontrollieren und beispielsweise den Kühlschrank verschließen.
Empfohlen wird eine kalorienreduzierte, ausgewogene Diät sowie ausreichend Bewegung. Da Patient*innen mit PWS oft weniger aktiv sind, kann es hilfreich sein, ihnen abwechslungsreiche Aktivitäten wie Reiten oder Schwimmen anzubieten. Eltern sollten sich Hilfe von einem*einer Ernährungswissenschaftler*in suchen, der*die sich auf Kinder mit PWS spezialisiert hat, regelmäßig den Körpermaßindex (BMI) überprüft und Tipps für den Umgang mit der Esssucht geben kann.
Psychologische Förderung
Viele Kinder mit PWS weisen Verhaltensstörungen sowie eine geistige Behinderung auf. Daher kann auch eine frühzeitige pädagogische und psychologische Unterstützung für Kinder und Eltern hilfreich sein. Um Wutausbrüche und emotionales Verhalten in den Griff zu bekommen, haben sich vor allem verhaltenstherapeutische Maßnahmen bewährt. Zudem sollten die sozialen Fähigkeiten mit gleichaltrigen Kindern trainiert werden.
Chirurgische und physiotherapeutische Behandlungen
Einige Menschen mit PWS leiden an einer Wirbelsäulenverkrümmung (Skoliose), welche eine orthopädische Behandlung erfordert. Auch mögliche Fehlstellungen der Augen (Schielen) lassen sich meist augenmedizinisch gut behandeln. Darüber hinaus sind bei einer Unterentwicklung der Geschlechtsorgane unter Umständen chirurgische Eingriffe notwendig.
Meist wird auch eine Physiotherapie empfohlen. Bei Kindern unter drei Jahren kann ein gezielter Muskelaufbau zu einer Verbesserung der körperlichen Entwicklung beitragen. Für ältere Kinder sind tägliche Bewegungsübungen wichtig, um einen gesunden Body-Mass-Index beizubehalten.
Leben mit Prader-Willi-Syndrom
Sofern ein gesundes Gewicht gehalten wird und keine zusätzlichen Erkrankungen wie Diabetes mellitus bestehen, haben Menschen mit PWS heute eine ähnlich hohe Lebenswertung wie gesunde Personen.
Viele Menschen mit PWS benötigen ihr Leben lang eine intensive Betreuung. Das bedeutet aber nicht, dass sie sich nicht entfalten und selbstbestimmt leben können. Es gibt beispielsweise spezielle pädagogisch-psychologische Betreuungseinrichtungen für Erwachsene mit Prader-Willi-Syndrom. Hier wird speziell auch auf die Ernährung der Bewohner*innen geachtet.
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