Myasthenia gravis: Diagnostik, Symptome und Therapie
Übersetzt heißt Myasthenia gravis "schwere Muskelschwäche“. Die Erkrankung verursacht eine phasenweise und belastungsabhängige Schwäche der Muskulatur. Mit einer passenden Therapie können die Symptome der Myasthenia gravis gut kontrolliert werden.
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Bei Myasthenia gravis liegt eine Störung der Signalübertragung zwischen Nervensystem und Muskeln vor, die auf einer Autoimmunreaktion beruht. Die Symptome können behandelt werden, eine Heilung der Erkrankung Myasthenia gravis ist aber bisher nicht möglich.
Artikelinhalte im Überblick:
Was ist Myasthenia gravis?
Myasthenia gravis ist eine Nervenkrankheit, bei der es durch autoimmunologische Prozesse zu einer Störung der Signalübertragung zwischen Nervensystem und Muskulatur kommt. Die Erkrankung ist weder ansteckend noch erblich.
Nerven geben ihre Impulse an die Muskulatur weiter, indem sie an den Übergangsstellen zwischen Nerv und Muskel einen chemischen Botenstoff (Neurotransmitter) freisetzen. So wird aus dem elektrischen Signal im Nerv ein chemisches Signal, das die Muskeln erregt. Der Neurotransmitter bindet an den Muskelzellen an spezifische Andockstellen (Rezeptoren). Der Neurotransmitter Acetylcholin erregt die Rezeptoren des Muskels und dieser zieht sich zusammen. Für eine gezielte Bewegung werden viele solcher Signale miteinander kombiniert.
Bei Menschen mit Myasthenia gravis ist die Übertragung von Signalen zwischen dem Nervensystem und den Muskeln gestört, da das körpereigene Immunsystem seine eigenen Rezeptoren für Acetylcholin angreift und so die Kommunikation zwischen Nervenzellen und Muskeln gestört wird. Der genaue Grund für diese Autoimmunreaktion ist unbekannt.
Durch die gestörte Übertragung von Signalen zwischen dem Nervensystem und den Muskeln kommt es zu schneller Ermüdbarkeit, Schwäche oder dem kompletten Ausfall einzelner Muskeln. Myasthenia gravis führt nicht zu anhaltenden Symptomen, sondern zu periodisch auftretender Schwäche sowie zur Funktionslosigkeit einzelner Muskeln oder ganzer Muskelgruppen. Betroffen sind nur die quergestreiften Muskeln, während der Herzmuskel oder die glatte Muskulatur der Organe sind nicht betroffen sind. Die Schwäche tritt teilweise spontan auf oder nimmt im Tagesverlauf langsam zu.
Myasthenia gravis kann in jedem Lebensalter auftreten, ist aber bei Frauen im Alter von 20 bis 40 Jahren und Männern im Alter von 50 bis 80 Jahren besonders häufig. Mit einer Häufigkeit von bis zu sechs Betroffenen auf 100.000 Menschen gilt die schwere Muskelschwäche als selten. Die steigende Anzahl gemeldeter Erkrankungen ist nicht auf eine Zunahme der tatsächlichen Erkrankungsfälle zurückzuführen, sondern dem höheren Bekanntheitsgrad von Myasthenia gravis geschuldet.
Ursachen der Myasthenia gravis
Warum bei Myasthenia gravis die Rezeptoren an den Muskelzellen teilweise oder ganz blockiert oder sogar zerstört werden, ist nur teilweise geklärt. Die Ursache für die Verminderung der Rezeptorenzahl sind fehlgesteuerte Aktivitäten des körpereigenen Immunsystems.
Es werden Antikörper gegen die eigenen Acetylcholin-Rezeptoren produziert, welche diese zerstören. Daher bezeichnet man die Myasthenia gravis als Autoimmunkrankheit. Auffallend häufig tritt Myasthenia gravis bei Menschen auf, die andere Autoimmunerkrankungen wie beispielsweise rheumatoide Arthritis oder Hashimoto-Thyreoiditis haben.
Es wird diskutiert, welche Rolle eine Fehlfunktion des Thymus bei der Erkrankung spielt. Im Thymus lernen Zellen des Immunsystems, zwischen körpereigenen und körperfremden Substanzen zu unterscheiden. Man weiß, dass bei 65 Prozent der Betroffenen der Thymus vergrößert ist (Hyperplasie) und bei zehn Prozent ein gut- oder bösartiger Thymustumor vorliegt. Ein Zusammenhang scheint sicher zu sein, auch weil bei 80 Prozent der Betroffenen eine operative Thymusentfernung eine Verbesserung der Beschwerden bringt.
Es gibt einige Faktoren, die als Auslöser der Myasthenia gravis angesehen werden oder die eine bestehende Muskelschwäche verschlimmern können. Diese sind:
- Infektionen und Entzündungen
- Operationen
- bestimmte Arzneimittel wie beispielsweise Nifedipin oder Verapamil (gegen Bluthochdruck), Chinin (gegen Malaria), Procainamid (gegen Herzrhythmusstörungen) sowie verschiedene Schmerzmittel, Antibiotika oder Antidepressiva
- Umwelteinflüsse
- seelische und psychische Belastungen
Bei Kindern muss man zwei Formen der Myasthenie unterscheiden, die unterschiedliche Ursachen haben:
Neugeborenenmyasthenie oder neonatale Myasthenie: Die angeborene Form der Myasthenia gravis betrifft etwa zwölf Prozent der Kinder von erkrankten Frauen. Die mütterlichen Antikörper werden über die Plazenta (Mutterkuchen) an das Ungeborene weitergegeben. Die Babys werden mit einer Muskelschwäche geboren, die sich innerhalb weniger Tage bis Wochen zurückbildet.
Kongenitale Myasthenie: Dabei handelt es sich um eine seltene autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung, die im Laufe der Kindheit symptomatisch wird. Sie ist keine Autoimmunerkrankung, es handelt sich um eine angeborene Anomalie des signalübertragenden Systems.
Welche Symptome zeigen sich bei der Myasthenia gravis?
Die Erkrankung entwickelt sich in der Regel langsam. Anfänglich kommt es zu Sehstörungen, die insbesondere bei Müdigkeit auftreten. Betroffene bemerken wechselnde Doppelbilder und ein Müdigkeitsgefühl der Oberlider. Besonders gegen Ende des Tages können Außenstehende einen sogenannten Schlafzimmerblick, ungleich weit geöffnete Augen oder Augen die nicht vollständig geschlossen werden können, beobachten. Die Augensymptome stellen bei der Mehrzahl der Betroffenen das Erstsymptom dar.
Die mimische Muskulatur ist ebenfalls oft schon in der Anfangsphase von der Muskelschwäche betroffen. Den Betroffenen fällt es schwer zu lachen, den Mund richtig zu schließen oder zu sprechen. Wenn sich die Muskelschwäche auf die Kau- und Rachenmuskulatur ausbreitet, kommen Probleme beim Essen und Schlucken hinzu.
Ist die Nackenmuskulatur beeinträchtigt, fällt es Betroffenen schwer, den Kopf aufrecht zu halten. Im späteren Verlauf kann die Erkrankung auf Oberkörper, Arme und Beine übergreifen und das Ausführen gezielter Bewegungen und das Gehen erschweren. Betrifft die Erkrankung die Atemmuskulatur, kann es zu einer lebensbedrohlichen Situation kommen.
Die Intensität der Symptome schwankt stark, in der Regel sind die Beschwerden in den Abendstunden am stärksten ausgeprägt. In Ruhephasen bessern sich die Symptome meist innerhalb kurzer Zeit. Neben der Anstrengung der Muskulatur können Medikamente und besondere Umstände wie Krankheit, Stress oder Schwangerschaft zu einer vorübergehenden Verschlechterung der Krankheitssymptome führen.
Die Augenmuskelschwäche tritt als Anfangssymptom bei 40 Prozent der Erkrankten auf und die Augenmuskeln sind bei insgesamt 85 Prozent der Erkrankten betroffen. Bei 15 Prozent der Fälle sind die Augen die einzig betroffene Region. Wenn sich nach den Augensymptomen die Myasthenie auf den Rest des Körpers ausbreitet, erfolgt dies meist innerhalb von drei Jahren.
Typische Symptome der Myasthenia gravis auf einen Blick:
Schwäche der Muskeln, die von der Belastung der Muskulatur abhängt und meist mit den kleinen Muskeln wie Lidhebern und Augenmuskeln beginnt
rasche Besserung der Muskelschwäche durch Erholung der Muskulatur
Verminderung der Symptome bei Kälte
Verschlimmerung der Beschwerden im Tagesverlauf
anfänglich ein- oder beidseitiges Hängen des Augenlids und Sehen von Doppelbildern
kloßige und näselnde Sprache
häufiges Verschlucken
Gewichtsabnahme durch Schwäche des Kau- und Schluckapparates
Abnahme der Gesichtsmimik (sogenannte Facies myopathica)
Schwäche der Muskulatur im Schultergürtelbereich, der Halsmuskulatur sowie in Armen und Beinen
Abnahme der Muskelmasse
in ausgeprägten Fällen Schwäche der Atemmuskulatur
der Befall der Muskulatur folgt keinem nachvollziehbaren System
die Schwere der Muskelschwäche sowie des Krankheitsverlaufs kann minütlich, stündlich oder täglich schwanken
es bestehen keine Schmerzen
Myasthene Krise
Bei etwa 15 bis 20 Prozent der Betroffenen kommt es mindestens einmal zu einem schweren Schub, einer sogenannten myasthenen Krise. Auslöser eines dieser Schübe ist oft eine Infektion, durch die das Immunsystem stark aktiviert wird.
Arme und Beine werden sehr schwach und oft kommt es zur einer Schwächung der Atemmuskulatur und des Zwerchfells, was ein lebensbedrohlicher Zustand ist. Durch die Schwäche der Atemmuskulatur kann es sehr schnell zu Atemversagen kommen.
Eine myasthenische Krise ist ein medizinischer Notfall, der einer intensivmedizinischen Behandlung bedarf. Besonders betroffen sind ältere Menschen mit mehreren Begleiterkrankungen, die Sterblichkeit liegt auch bei intensivmedizinischer Behandlung bei vier bis zehn Prozent.
Anzeichen der myasthenen Krise:
plötzlich einsetzende Atemschwäche (respiratorische Insuffizienz) und Gefahr sich zu verschlucken (Aspirationsgefahr)
über den ganzen Körper verbreitete Muskelschwäche
ein- oder beidseitige Weitstellung der Pupille (Mydriasis), vollständiges oder auch teilweises Herabhängen eines oder beider oberen Augenlider (Ptosis)
beschleunigter Herzschlag (Tachykardie)
Hautblässe
Schluck- und Atemstörung
Auslöser sind meist Infektionen, falsch eingenommene Medikamente oder plötzliche Beendigung einer Therapie sowie Operationen unter Vollnarkose
Wie wird die Diagnose gestellt?
Hat ein Hausarzt den Verdacht, dass eine Myasthenia gravis vorliegen könnte, kann er durch eine ausführliche Anamnese und einfache Tests diesen Verdacht erhärten. Die endgültige Diagnose wird in den meisten Fällen durch einen Facharzt für Neurologie gestellt.
Bei der Anamnese können Doppelbilder, Kau- und Schluckbeschwerden und tageszeitliche Schwankungen der Muskelkraft erfragt werden. Die Beweglichkeit der Augen, die Weite der Lidspalte und die Kraft der Muskulatur in Armen und Beinen können durch einfache Tests untersucht werden.
Beim Simpson-Test müssen Betroffene so lange wie möglich nach oben schauen und dabei die Augenlider weit öffnen. Nach der Gabe eines bestimmten Medikaments (Tensilon) können Betroffene die Augen bedeutend länger offenhalten. Auch das Auflegen einer Eispackung auf das Auge kann bei Erkrankten dazu führen, dass eine Lidheberschwäche deutlich verbessert wird.
Weitere Untersuchungen:
Elektromyographie (Stimulieren der Muskeln und anschließendes Aufzeichnen ihrer elektrischen Aktivität): Bei wiederholter elektrischer Reizung eines Nervs kommt es in dem dazugehörigen Muskel zu einer zunehmenden Erschöpfung.
Bluttests zur Bestimmung von Antikörpern gegen Acetylcholin-Rezeptoren und manchmal auch anderen Antikörpern, die für die Erkrankung spezifisch sind. Zusätzlich kann auch eine Probe aus Muskelgewebe (Muskelbiopsie) laborchemisch untersucht werden.
Blutuntersuchungen auf andere Erkrankungen, die ebenfalls einen autoimmunologischen Hintergrund haben können (beispielsweise Schilddrüsenerkrankungen)
Lungenfunktionstests
Beurteilung der Funktion von Kau- und Rachenmuskulatur durch einen Logopäden, um den Grad der Myasthenia gravis besser einschätzen zu können
Computertomographie (CT) oder Magnetresonanztomographie (MRT) des Brustkorbs um den Thymus zu untersuchen und gegebenenfalls eine Vergrößerung zu erkennen
Wie wird die Myasthenia gravis behandelt?
Die Myasthenia gravis wird vorwiegend medikamentös durch teilweise sehr neue Medikamente behandelt. Die einzige operative Methode zur Therapie ist die Entfernung der Thymusdrüse.
Die eingesetzten Medikamente haben die Aufgabe, die Übertragung der Nervenimpulse auf die Muskelzellen positiv zu beeinflussen. Dazu gibt es folgende Ansätze:
Behandlung der Symptome mit Cholinesterasehemmern
Durch die Gabe von Pyridostigmin oder Prostigmin wird der Abbau von Acetylcholin gehemmt. Die gesteigerte Konzentration des Überträgerstoffs der Nervenimpulse führt dann meist zur Verbesserung der Muskelkraft. So lassen sich über Stunden bestimmte Symptome, wie beispielsweise Schluckstörungen, reduzieren.
Die Einnahme dieser Medikamente birgt das Problem, dass nicht alle Symptome darauf reagieren und es zu einem gewissen Gewöhnungseffekt kommen kann und die Cholinesterasehemmer nicht mehr so gut wirken. Die Medikamente können auch sehr gefährlich werden, denn eine zu große Menge dieser Medikamente kann als Medikamenten-Nebenwirkung wiederum selbst zu Muskelschwäche führen.
Eine Überdosierung kann eine sogenannte cholinerge Kriese auslösen. Diese ist ein medizinischer Notfall und kann bei schweren Formen zu einer erheblichen, medikamenteninduzierten Schwächung der Atemmuskulatur führen und eine intensivmedizinische Behandlung nötig machen.
Dämpfung des Immunsystems/Immunmodulation
Um die Autoimmunreaktion zu unterdrücken und den Krankheitsverlauf zu verlangsamen, werden folgende Medikamente eingesetzt:
Kortikosteroide (Prednison): Die Kortikosteroid-Therapie muss manchmal lebenslang durchgeführt werden.
Immunsupressiva (Mycophenolatmofetil, Ciclosporin oder Azathioprin): Oft in Kombination mit Kortikosteroiden
monoklonale Antikörper (Rituximab oder Eculizumab): Künstlich hergestellte Antikörper können sich gegen spezifische Teile des Immunsystems richten und diese unterdrücken.
Immunglobuline: Eine Lösung aus vielen verschiedenen Antikörpern, gesammelt aus einer Spendergruppe
Weitere Therapiemöglichkeiten
operative Entfernung der Thymusdrüse (Thymektomie): Der genaue Wirkmechanismus ist unklar, die Thymusentfernung kann aber in vielen Fällen die Symptome deutlich bessern oder die nötige Dosis an Kortikosteroiden verringern
Plasmaaustausch (Plasmapherese): Unnormale Antikörper werden aus dem Blut gefiltert. Hierbei handelt es sich um eine intensivmedizinische Behandlung bei besonders schweren Fällen
Intubation und künstliche Beatmung: Wird bei Betroffenen mit Ateminsuffizienz als Notfallbehandlung notwendig
Verlauf und Ausprägung der Symptome sind bei Myasthenia gravis sehr unterschiedlich. Es muss immer eine individuelle Kombination an Behandlungsmöglichkeiten ausgewählt werden, um einen optimalen Behandlungserfolg zu erzielen. Eine besondere Ernährung bringt keine Vorteile.
Verlauf und Prognose bei Myasthenia gravis
Myasthenia gravis ist eine seltene Erkrankung, die bei jedem Betroffenen unterschiedlich abläuft. Dazu kommen große Schwankungen hinsichtlich der Symptomstärke und der betroffenen Körperabschnitte, sodass sich das Krankheitsbild von Tag zu Tag ändern kann. Grund dafür sind unter anderem körperliche und psychische Belastungen, die die Symptome verstärken können.
In den meisten Fällen können die Krankheitssymptome aber mit den verfügbaren Therapiemöglichkeiten gut kontrolliert werden. Erkrankte können ein weitgehend normales Leben führen und die Lebenserwartung ist nicht verkürzt. Die Muskelkraft ist aber in den seltensten Fällen wieder vollkommen herzustellen. Manche Betroffene müssen mit stärkeren Einschränkungen leben und mit einer Reduzierung der Arbeitszeit oder Unterstützungsbedarf im Haushalt leben.
Eine Schwangerschaft ist mit Myasthenia gravis möglich. Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit sind zwar mit einigen Besonderheiten verbunden, stellen unter Beachtung entsprechender Vorsichtsmaßnahmen in der Regel aber kein nennenswert erhöhtes Risiko dar.
Unbehandelt schreitet die Erkrankung aber immer weiter fort und kann zu schweren Beschwerden und im Extremfall zu tödlichen Atemproblemen führen. Dank der erhöhten Aufmerksamkeit, die der Myasthenia gravis zukommt und der guten Therapiemöglichkeiten sind schwere Verläufe allerdings zur Seltenheit geworden.
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