Alltagsgeräusche werden unerträglich

Misophonie: Wenn normale Geräusche extrem aggressiv machen

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Manche empfinden normale Geräusche wie Atmen als unerträglich. Die Misophonie – der Hass auf Geräusche – kann so weit gehen, dass Betroffene vereinsamen. Symptome und mit welcher Therapie man Misophonie behandeln kann.

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© iStock.com/sevendeman

Babygeschrei, eine Mikrophon-Rückkoppelung und Erbrechen: Das sind die drei schlimmsten Geräusche der Welt. Zu diesem Ergebnis kam zumindest Akustik-Forscher Trevor Cox von der englischen Universität Salford. Menschen, die unter Misophonie leiden, empfinden jedoch auch harmlosere Alltags-Geräusche wie Kauen oder gar Atmen als akustische Folter.

Im Überblick:

Entspannungstechniken im Überblick

Was ist Misophonie?

Misophonie bezeichnet den Hass auf Geräusche, also eine verminderte Geräuschtoleranz. Der Begriff kommt aus dem Griechischen: "missein" bedeutet hassen und "phone" steht für Ton, Klang oder Stimme.

Ab und an mal genervt vom Schmatzen oder Suppe-Schlürfen des Kollegen? Noch lange keine Misophonie. Krankhaft wird es dann, wenn alltägliche Geräusche wie Kauen, Trinken, Fingertrommeln, Räuspern, Schniefen, Pfeifen, Husten oder sogar Atmen als so unangenehm empfunden werden, dass Betroffene die Situation verlassen müssen. Das kann zum Beispiel ein Restaurantbesuch sein, der nicht ertragen wird, weil zu viele Kau- und Trinkgeräusche den Raum erfüllen.

In Online-Foren berichten Misophonie-Betroffene außerdem, dass sie das Kaugummi-Kauen ihrer Mitschüler wahnsinnig macht oder aber das gemeinsame Abendessen mit der Familie Wut oder Ekel in ihnen auslöst. Die als belastend empfundenen Geräusche kommen dabei meist von Mitmenschen, technische Geräusche wie das Surren einer Klimaanlage oder Motorengeräusche werden seltener als Auslöser beschrieben.

Die Misophonie ist bislang keine anerkannte Erkrankung, in den offiziellen Klassifikationen für Krankheiten (ICD-10) und psychischen Krankheiten (DSM-5), ist sie nicht zu finden. Aktuell wird sie den neurologischen Störungen zugeordnet.

Ursachen der Misophonie: Was steckt hinter dem Hass auf Geräusche?

"Manche Menschen reagieren anlagebedingt sehr empfindlich auf Geräusche", sagt Uwe Landwehr, Diplom-Psychologe mit eigener Praxis in Grevenbroich in Nordrhein-Westfalen.

"Hinter der Misophonie stecken allerdings oftmals psychologische Gründe wie extreme berufliche Belastung oder Konflikte in der Partnerschaft." Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn hinter dem Hass auf das Schnarchen des Ehemannes eigentlich anderer Frust steckt, beispielsweise seine langen Arbeitszeiten und damit fehlende Zeit für die Beziehung. Auch bei Menschen mit Zwangserkrankungen sei die Misophonie wahrscheinlicher als bei psychisch Gesunden.

Ganz neu ist das Phänomen nicht: Erstmals beschrieben haben den Ekel vor und die Wut auf Geräusche die amerikanischen Neurowissenschaftler Pawel und Margaret Jastreboff in den 90er-Jahren. Die Jastreboffs vermuten, dass der Misophonie eine selektive Geräusch-Intoleranz zugrunde liegt, die nichts mit dem Ton an sich zu tun hat. Die individuellen Erfahrungen sollen es sein, die irgendwann einmal Frust, Ekel oder Wut ausgelöst haben. Diese tiefsitzenden Gefühle werden der Theorie zufolge durch bestimmte Geräusche wieder hervorgerufen. Das kann beispielsweise das Räuspern der Kollegin sein, das einen an die verhasste Tante erinnert.

Eltern-Kind-Konflikte werden von einigen Ärzten und Wissenschaftlern als vermehrte Ursache angenommen. Oftmals sind die Betroffenen noch Kinder, wenn das Phänomen Misophonie diagnostiziert wird. Aufgrund familiärer Häufung ist ebenfalls eine genetische Komponente nicht auszuschließen.

Veränderte Gehirnaktivität bei Misophonie

Eine 2016 im Fachmagazin Current Biology veröffentlichte Studie gibt der Misophonie erstmalig eine größere psychopathologische Relevanz. Die Forscher beobachteten via Kernspintomographie, dass bei Misophonie emotionale Kontrollmechanismen im Gehirn gestört sind. Das Hören der triggernden Geräusche aktiviert bei Betroffenen unter anderem die vordere Inselrinde im Gehirn, die bei der Verknüpfung von Sinneseindrücken und Emotionen eine wichtige Rolle spielt.

Symptome bei Misophonie: Wut bis hin zu Gewaltfantasien

Die Misophonie kann extreme Ausmaße annehmen. "Vor allem bei meiner Mutter oder anderen Familienmitgliedern halte ich es kaum aus, wenn sie essen. Ich werde total aggressiv und irgendwann renne ich in mein Zimmer und fange an zu weinen" – solche oder ähnliche Erfahrungen schildern Betroffene. Das Umfeld reagiert oft mit Unverständnis, stempelt die Betroffenen als zu empfindlich, übersensibel oder im schlimmsten Fall als verrückt ab.

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Misophoniker haben unterschiedliche Strategien entwickelt, um mit ihrem Problem umzugehen: Manche machen bewusst selbst Krach, indem sie zum Beispiel laut singen. Wird der Leidensdruck immer stärker, kann es zu selbstverletzendem Verhalten kommen. Oder Misophoniker vereinsamen, weil sie sich nicht mehr unter Menschen wagen. Auch Gewaltfantasien sind möglich, wenn die Wut auf den Geräuschauslöser zu groß wird. Spätestens dann sollte man einen Arzt oder Psychologen aufsuchen.

Die Misophonie behandeln mit Verhaltenstherapie

"Es gibt keine Programme zur Behandlung der Misophonie", erklärt Psychotherapeut Landwehr: "Im Rahmen der kognitiven Verhaltenstherapie gibt es die Möglichkeit der Gegenkonditionierung: Das als sehr unangenehm empfundene Geräusch und die damit verbundenen negativen Emotionen und Erfahrungen sollen mit neuen, positiven Eindrücken überschrieben werden." Der Betroffene wird beispielsweise mit seinem "Hass-Ton" konfrontiert, während er Entspannungstechniken ausübt.

Wird im Gespräch deutlich, dass die Misophonie Ausdruck einer beruflichen Belastungsreaktion ist oder Beziehungsprobleme der eigentliche Verursacher sind, bringt eine Gegenkonditionierung nichts. In diesen Fällen wird der Psychotherapeut gemeinsam mit den Patienten Lösungen suchen, wie sie die eigentlichen Ursachen bewältigen können, beispielsweise durch eine Paartherapie.

Misophonie abgrenzen von anderen Störungen

Als psychische Störung ist die Misophonie von folgenden Erkrankungen abzugrenzen:

  1. Die Phonophobie bezeichnet die Furcht vor bestimmten Geräuschen. Tiere, Personen, Objekte oder Situationen können Ängste verursachen, bei der Phonophobie sind es Geräusche. Diese können individuell ganz unterschiedlich sein. Eine Kindergärtnerin zum Beispiel reagiert nach einem anstrengenden Arbeitstag empfindlich auf laute Kinderstimmen. Eine Büroangestellte dagegen wird eher gegen den Klingelton des Telefons eine Phonophobie entwickeln. Wie bei der Misophonie geht man davon aus, dass nicht der Ton selbst das Problem ist. Vielmehr entwickelt sich eine Phonophobie, weil mit bestimmten Geräuschen eine negative Erfahrung verbunden ist. Anders als bei der Phonophobie haben Betroffene bei Misophonie allerdings keine Angst vor bestimmten Geräuschen, sondern reagieren aggressiv.

  2. Ein weiteres Phänomen, das von der Misophonie abzugrenzen ist, ist die Hyperakusis: Eine Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen sämtlicher Frequenzen. Normale Umweltgeräusche werden bereits ab 50 Dezibel – das entspricht einer normalen Unterhaltung – als zu laut und unangenehm erlebt. Als Ursache kommen Hörschäden, neurologische Erkrankungen oder der Ausfall bestimmter Hirnnerven infrage. Eine Hyperakusis wird bei über 40 Prozent der Tinnitus-Patienten beobachtet.

  3. Auch die Hochsensibilität ist wie die Misophonie noch wenig erforscht. Sie wird ebenfalls nicht als Krankheit eingeordnet. Hochsensible Menschen reagieren verstärkt auf Reize. Menschenansammlungen, laute Musik, aber auch Hunger oder Schmerz überanstrengen oder stören sie schneller als andere Menschen.

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