KiSS-Syndrom: Umstrittene Diagnose beim Baby
Das KiSS-Syndrom soll für verschiedene Auffälligkeiten beim Baby und Kleinkind verantwortlich sein. Die Existenz des Syndroms ist allerdings umstritten. Was auf ein KiSS-Syndrom hindeuten könnte.
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„KiSS“ steht für Kopfgelenk-induzierte Symmetrie-Störung. Die beiden Kopfgelenke des Menschen verbinden den Schädel mit der Wirbelsäule: Sie befinden sich zwischen Schädelbasis und erstem Halswirbel sowie zwischen erstem und zweitem Halswirbel. Laut dem Chirurgen Dr. Heiner Biedermann kann eine Fehlstellung dieser Gelenke beim Baby und Kleinkind körperliche Veränderungen sowie Verhaltensauffälligkeiten hervorrufen.
Bislang gibt es keine anerkannten Studien, die die Existenz des KiSS-Syndroms beweisen. Die evidenzbasierte Medizin erkennt es daher nicht als Diagnose an. Außerdem sind sich Mediziner und Therapeuten nicht einig, ob das KiSS-Syndrom Entwicklungsstörungen nach sich zieht und wie groß der Einfluss auf die Gesundheit der Kinder ist.
Artikelinhalte im Überblick:
- Mögliche Ursachen
- Mögliche Symptome
- Diagnose des Syndroms
- Therapie beim KiSS-Syndrom
- Verlauf und Prognose
- Kritik an der KiSS-Theorie
Mögliche Ursachen des KiSS-Syndroms
Bei einigen Babys führen Mediziner das KiSS-Syndrom auf die Zeit der Schwangerschaft zurück. Mögliche Ursachen sind langes Liegen in Quer-, Steiß- oder hinterer Hinterhauptslage, enge Platzverhältnisse bei Schwangerschaft mit Mehrlingen oder Übertragung (verlängerte Schwangerschaft).
In den meisten Fällen soll die Fehlstellung der Kopfgelenke eine Folge der Geburt sein. Das KiSS-Syndrom auslösen könnten vor allem folgende Situationen:
Zange oder Saugglocke während der Geburt
Kaiserschnitt
Geburt von Mehrlingen
Geburtsgewicht über 4000 Gramm
sehr schnelle Geburt
sehr lange und schwere Geburt
Mögliche Symptome beim betroffenen Kind
Der Zeitpunkt, an dem die ersten Symptome auftreten, kann unterschiedlich sein: Auffälligkeiten können sich kurz nach der Geburt oder nach mehreren Wochen einstellen. Folgendes könnte beim Baby und Kleinkind auf ein KiSS-Syndrom hindeuten:
Asymmetrie von Kopf und Gesicht (zum Beispiel ist ein Auge kleiner als das andere)
asymmetrische Kopfhaltung
Kopfhalte- und Kopfdrehschwäche
abgeplatteter Hinterkopf, eventuell Haarabrieb
Fehlstellung der Füße
unreife Hüftgelenke
asymmetrische Pofalte
Schiefhaltung des Rumpfes, eventuell Überstrecken des Körpers
das Kind bewegt Arme und Beine ungleich und einseitig
Da das betroffene Baby in manchen Positionen und bei bestimmten Bewegungen Schmerzen empfindet, könnte die Fehlstellung der Kopfgelenke auch zu einem auffälligem Verhalten führen:
Entwicklung zum "Schreikind", Dreimonatskoliken
Probleme beim Stillen (häufig einseitig)
eindeutige Bevorzugung einer Brust, da das Kind an der anderen Seite nicht entspannt liegen kann
Berührungsempfindlichkeit insbesondere beim Hochheben
das Baby schreit beim Autofahren und im Kinderwagen
das Baby vermeidet die Bauchlage, dreht sich nur über eine Seite und/oder hat eine bevorzugte Blickrichtung
das Baby schlägt den Kopf an (zum Beispiel gegen die Gitter des Bettchens)
Schlafhaltung einseitig oder nach hinten durchgebogen (wie ein "C")
Schlafstörungen, häufiges Aufwachen und Unruhe
Auslassen einzelner Entwicklungsphasen
Laut Theorie von Dr. Biedermann treten diese Anzeichen nicht alle gleichzeitig auf – oft sind einzelne Bereiche völlig unauffällig. Alle Symptome können auch die Folge anderer Ursachen sein oder eine vorübergehende Entwicklungsstufe darstellen. Wenn sie bestehen bleiben oder stark ausgeprägt sind, sollten Eltern aufmerksam werden.
KiSS-Typen
Je nach Fehlhaltung des Kopfes unterscheiden Mediziner zwei KiSS-Typen, wobei bei fast allen Kindern eine Kombination vorliegt:
KiSS I: Beim betroffenen Baby besteht eine fixierte Seitneigung des Kopfes ("muskulärer Schiefhals"). Die Asymmetrie kann sich am ganzen Körper bemerkbar machen. Gesicht und Schädel sind nicht gleichseitig ausgeprägt, Arme und Beine sind asymmetrisch, das Kind setzt die Extremitäten nicht gleichermaßen ein und die Pofalte ist nicht gerade.
KiSS II: Der Kopf des Babys ist nach hinten gebeugt und der Hinterkopf abgeplattet. Kopfhaltemuskulatur und Mundmuskulatur sind beeinträchtigt, das Kind hat insbesondere auf einer Seite Probleme beim Saugen oder Schlucken. Ältere Babys liegen ungern auf dem Bauch, können den Kopf nicht gut halten und sind im Unterarmstütz unsicher.
Wie stellt der Arzt die Diagnose?
Kinderärzte, Kinderorthopäden, besonders geschulte Physiotherapeuten oder Osteopathen untersuchen Kinder auf das Vorliegen einer Kopfgelenk-induzierten Symmetrie-Störung. Im ersten Schritt werden Beschwerden und mögliche Ursachen besprochen. Darauf folgt eine körperliche Untersuchung: Der Mediziner achtet vor allem auf Abweichungen von der altersgemäßen Entwicklung, auffällige Körperhaltungen, Auffälligkeiten der Schädelform oder eine erhöhte Muskelspannung. Außerdem überprüft er Reflexe und untersucht die Wirbelsäule sowie das Becken der Kinder. Oft lässt der Arzt eine Röngtenaufnahme anfertigen, um die Form der Wirbelsäule sowie die Stellung der Wirbel zu beurteilen und um andere Probleme im Bereich der Kopfgelenke auszuschließen.
Therapie beim KiSS Syndrom
Ziel der Therapie ist es, die verschobenen Halswirbel in die richtige Position zu bringen und Bewegungsblockaden zu lösen. Zwei Spezialtechniken stehen zur Verfügung: Die "Atlastherapie nach Arlen" behandelt vor allem Fehlstellungen des ersten Halswirbels, die "Therapie nach Dr. Biedermann und Dr. Gutmann" beide Kopfgelenke. Auch manuelle Therapien wie die Osteopathie finden beim KiSS-Syndrom Anwendung. Nur ausgebildete Therapeuten, die in der Therapie von Säuglingen erfahren sind, sollten ein Kind mit KiSS-Syndrom behandeln.
Viele Eltern berichten von schnellen Therapieerfolgen durch manualtherapeutische Behandlungen: Nach zwei bis drei Wochen Therapie bessere sich insbesondere das Schlafverhalten des Kindes deutlich. Da die evidenzbasierte Medizin das KiSS-Syndrom nicht als Diagnose anerkennt, übernehmen Krankenkassen die Kosten für eine Therapie im Allgemeinen nicht.
Welchen Verlauf können Eltern erwarten?
Laut KiSS-Theorie ist der Verlauf bei frühzeitiger Therapie in der Regel mild und die Prognose gut. Unbehandelt soll das KiSS-Syndrom zu motorischen Problemen, Haltungsschäden, Schlaf- und Entspannungsstörungen, gehemmter Sprachentwicklung, ADHS, Lern- und Konzentrationsstörungen, Kopfschmerzen, Bettnässen sowie Gedeihstörungen führen.
KiDD-Syndrom
Auch beim älteren Kind und beim Erwachsenen können sich Spätfolgen bemerkbar machen. Als mögliche Folgeerscheinung gilt das sogenannte KiDD-Syndrom. KiDD ist die Abkürzung für Kopfgelenk-induzierte Dyspraxie/Dysgnosie. Beschwerden, die in Zusammenhang mit diesem Syndrom gebracht werden, sind:
Beschwerden der Halswirbelsäule
Haltungsschäden
Gelenk- und Rückenschmerzen
Bewegungs- und Gleichgewichtsstörungen
Lern- und Konzentrationsschwierigkeiten
Wahrnehmungsstörungen, Hyperaktivität und Aggressivität
Kritik an der KiSS-Theorie
Nach Ansicht vieler Ärzte ist die Ursache für die körperlichen Assymetrien beim Baby eine einseitige Verkürzung der Rumpf- und Halsmuskulatur, die durch die Lage des Kindes während der Schwangerschaft entsteht. Daher fordern sie andere Methoden zur Therapie. Ein weiterer umstrittener Punkt ist der angenommene Zusammenhang zwischen Fehlstellung der Kopfgelenke und Entwicklungsstörungen, für den keine Beweise vorliegen.
Die Manipulationen an der kindlichen Halswirbelsäule bergen Risiken und werden von vielen Ärzten kritisch gesehen. Zudem kritisieren Mediziner die frühe und oft mithilfe einer Röngtenaufnahme durchgeführte Diagnosestellung eines KiSS-Syndroms: Diese bringt eine erhebliche Strahlenbelastung für das Kind mit sich. Zudem halten sie so frühe Untersuchungsergebnisse nicht für aussagefähig.
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