Essstörung als Glaubensbekenntnis

Das steckt hinter Pro Ana und Pro Mia

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Wer krank ist, will gesund werden. Nicht so Mitglieder der Pro-Ana- und Pro-Mia-Bewegung: Sie erheben ihre Essstörung wie Bulimie oder Magersucht zum frei gewählten und erstrebenswerten Lebensstil. Mit Blogs, Foren und Thinspos motivieren sie sich und Gleichgesinnte, weiter abzunehmen.

Mädchen mit Laptop auf dem Schoss
© iStock.com/mediaphotos

Verena ist 14 Jahre alt, 1,58 Meter groß, wiegt 39,9 Kilogramm und ist Pro Ana. So steht es in ihrem Blog. Als Idealgewicht nennt sie 28 kg – das entspricht einem Body-Mass-Index (BMI) von 11,2. Bei ihrer Körpergröße ist sie mit ihrem aktuellen BMI von 16 bereits stark untergewichtig. Das angestrebte Gewicht wäre lebensgefährlich.

Artikelinhalte im Überblick:

"Federleicht": Pro Ana stilisiert Essstörung zum Ideal

Als sogenannte Pro Ana nimmt Verena die potenzielle Lebensgefahr in Kauf. Denn sie identifiziert sich mit ihrer Magersucht, die sie unter dem Namen “Ana” personifiziert. "Warum ich Pro Ana bin? Ana ist mir eine Freundin. Immer da, sie hilft mir. Sie zeigt mir eine neue Welt! Das einzige was zählt", schreibt Verena in ihrem Blog.

Das Thema von Blogs rund um Pro Ana ist immer das Gleiche: Stilisierung extremen Untergewichts als Ideal, das mit Begriffen wie "federleicht", "rein", "zart" oder "anmutig" beschrieben wird. Und die Motivation, "willensstark" zu sein, dem Hunger zu widerstehen und der Freundin Ana zu gefallen.

Zur gegenseitigen Identifikation schlagen viele Anhänger Pro Ana Armbänder in bestimmten Farben vor. Sie sollen symbolisieren, dass jemand Pro Ana ist und so Gleichgesinnte leichter identifizieren.

Hervorstehende Knochen als Schönheitsideal

Verena berichtet in ihrem Blog über Erfolge auf ihrem Weg, "dünn wie ein Engel" zu werden, beschreibt, wie in ihren Augen der perfekte Körper auszusehen hat. Schön ist demnach, was objektiv auf Unterernährung hinweist: "Die Schlüsselbeine stechen heraus, die Träger von Tops spannen darüber, auf dem Dekolleté sind leicht die Rippen zu erkennen, die Rippen stehen ein bisschen weiter heraus, als der Bauch, selbst stehend sieht man die Wirbelsäule". Das perfekte Mädchen ist "niedlich, wie eine Fee".

Zum Schönheitsideal gehört neben einer "Thigh Gap", die Lücke zwischen den Oberschenkeln beim Stehen, auch die "Bikini Bridge". Das ist eine Lücke zwischen Bauch und Bikinihöschen, die durch hervorstehende Beckenknochen entsteht.

Pro Mia: Bulimie als Glaubensbekenntnis

Auch die personifizierte Essstörung Bulimie (Bulimia nervosa) bietet im Internet als "Mia" ihre Freundschaft an – entweder auf Pro-Ana-Seiten "als eine Möglichkeit, Ana zu gefallen", wie eine Bloggerin schreibt, oder in eigenen Pro-Mia-Blogs und -Foren. Allerdings finden sich im Netz mehr Pro-Ana-Seiten als Auftritte, welche Bulimie verherrlichen.

Um die Jahrtausendwende herum entstanden die ersten deutschsprachigen Pro-Ana-Internetauftritte. Zwischen 2006 und 2007 nahm jugendschutz.net, Pro-Ana-Seiten genauer unter die Lupe – die Einrichtung von den für Jugendschutz zuständigen Ministerien der Bundesländer wurde 1997 einberufen. Sie entdeckte wiederkehrende Elemente auf den Websites: So seien eine mangelnde Krankheitseinsicht, die Glorifizierung als anzustrebender Lebensstil und das Verkennen der Risiken typisch. Die Inhalte animierten zum Ausprobieren und Nachahmen, hätten Modellwirkung und würden die Konsequenzen verharmlosen.

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"Anas erster Brief": zentrales Manifest von Pro Ana

Zentrales Manifest der Bewegung ist "Anas erster Brief", dem inzwischen weitere folgten und in dem sich die personifizierte Erkrankung als Freundin vorstellt. "Erlaube mir, mich vorzustellen: Mein Name oder wie ich von sogenannten 'Ärzten' genannt werde, ist Anorexie. Mein vollständiger Name ist Anorexia Nervosa, aber du kannst mich Ana nennen. Ich hoffe, wir werden gute Freunde", beginnt Anas erster Brief. Er verrät einiges über die Motivation und Ängste der "Pro Anas" sowie über ihren Weg in die Krankheit und rechtfertigt die Tendenz der Betroffenen, sich von ihrer Umwelt abzuschotten.

Auf manchen Blogs findet sich zusätzlich "Mias Brief", der angelehnt ist an Anas ersten Brief. Anders als Ana gestattet Mia das Essen, fordert aber gleichzeitig, etwas gegen die verzehrte Nahrung zu unternehmen - zum Beispiel mittels selbst herbeigeführtem Erbrechen oder Abführmitteln. Gleichzeitig wird in diesen Briefen verdeutlicht: Wer Mias Freundin sein möchte, muss dünn sein und leiden. 

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Thinspos sind Vorbilder für Pro Ana

In der Szene sind sogenannte Thinspirations, kurz "Thinspos" wichtig. Dabei handelt es sich um Fotos von knochigen Mädchen, die dem Ideal von Pro Ana entsprechen. Oft sind das prominente Models oder Schauspielerinnen. Allerdings handelt es sich um nachbearbeitete Bilder der ohnehin schon superschlanken Frauen und Mädchen, um die Knochen noch stärker hervorzuheben.

Die Thinspos sind die Vorbilder, denen die Jünger von Pro Ana nacheifern. Zur Abschreckung dienen "Fatspirations" oder "Antithinspos", also Fotos von Übergewichtigen oder dicken Bäuchen, die den Pro Anas die Lust am Essen verderben sollen.

Anas 10 Gebote und Thinlines zur Motivation

Großen Raum auf den Pro-Ana-Blogs nehmen Texte von oder über Ana ein: Anas Briefe, Anas Glaubensbekenntnis, Anas Gebote oder Sünden. Verhaltensregeln wie "Anas zehn Gebote" mit Anweisungen zum Ess- und Sozialverhalten sowie zum Wiegen gehören zum Standard. Dünn zu sein wird darin über alles gestellt, auch über die eigene Gesundheit. "Dünn sein ist wichtiger als gesund sein", lautet eines der Gebote. Solche und ähnliche Vorgaben, die ebenfalls typisch für die Blogs und Foren sind, stilisieren die Erkrankung und das Festhalten daran zu einer Art Ersatzreligion hoch.

Zur Motivation dienen ebenfalls sogenannte "Thinlines" oder "Triggerlines" – Sprüche, die zum Hungern oder Dünnsein animieren sollen. "Hunger hurts, but starving works!" ("Hungern tut weh, aber es funktioniert") lautet ein beliebter Motivationsspruch der Pro Anas, "Jede Kalorie gleicht einem weiteren Schritt zur Zerstörung" ein weiterer.

Gemeinsam Hungern mit einem Twin

Manche Betreiberinnen von Pro-Ana-Blogs bieten eine Twin- oder Gruppenbörse an, in der Gleichgesinnte Kontakte zur gegenseitigen Ermutigung knüpfen können. Die Möglichkeit zum Austausch bieten auch passwortgeschützte Foren. Der Zutritt wird nur gewährt, wenn man sich glaubhaft als Pro Ana ausweisen kann.

Tipps und Tricks: Wie schaffe ich, es nichts zu essen?

Feste Bestandteile von Pro-Ana-Seiten sind neben Thinspos und Anas Verhaltensregeln auch zahllose Tipps und Tricks – die vor allem dem Zweck dienen, Essen beziehungsweise eine Gewichtszunahme zu vermeiden. "Wenn du etwas Bestimmtes magst, verwahre die Verpackung und rieche an ihr, wenn du Hunger hast", lautet zum Beispiel ein Tipp, "Sieh dir das Bild einer dünnen Schönheit an, während du isst" ein anderer.  Auch Antworten darauf, wie viele Kalorien pro Tag gegessen werden oder wie lange die Anhänger fasten sollten werden gegeben.

Auf ihrem Blog postet Verena Diäten und ihre Erfahrungen damit, Tipps gegen den Hunger und Workouts zum Kalorienverbrennen. Auch zur Vertuschung der Magersucht werden Tricks verraten. So wird geraten, gemeinsames Essen mit anderen zu vermeiden. Wenn es unumgänglich ist, rät Verena beispielsweise: "Reiche in einem Restaurant immer zum Probieren herum, oder teile dir einen Teller mit einem Zweiten (dabei dann möglichst langsam essen und viel reden)."

“Anas letzter Brief”: Betroffene wissen um falsche Freundin

Im Grund wissen die Pro Anas, dass ihre Essstörung eine falsche Freundin ist. Das wird auch in "Anas letztem Brief" deutlich, der im Internet kursiert. Darin outet sich Ana als Betrügerin, die ihre “Freundin” auf den falschen Weg geführt hat – die Betroffene sei mit fahler Haut, dunklen Augenringen und hervorstechenden Knochen tatsächlich hässlicher statt hübscher geworden.

Viele Bloggerinnen distanzieren sich davon, andere zu Pro-Ana-Jüngern machen zu wollen. Die meisten haben ihre Blogs mit einem Warnhinweis versehen, so wie Verena: "pro ana blog. bitte diese seite verlassen, falls du mit pro ana nichts anfangen kannst. ich übernehme keine verantwortung für eventuelle psychische schäden", prangt über jeder Seite ihres Blogs.

Zahlreiche Pro-Ana-Foren geschlossen

Immer wieder wird der Ruf nach Verboten solcher Plattformen laut – nicht nur von Ärzten und Jugendschutzorganisationen. So forderte beispielsweise der Deutsche Philologenverband 2009, Pro-Ana- und Pro-Mia-Seiten für Jugendliche zu sperren. Der deutsche Jugendschutz hat inzwischen die Schließung zahlreicher Pro-Ana-Foren veranlasst. Eingedämmt wurde die Bewegung dadurch jedoch nicht. Vielmehr geben die Pro Anas und Pro Mias ihren Internetauftritten jetzt einfach weniger offensichtliche Namen.

In Frankreich hat die Nationalversammlung Anfang April 2015 beschlossen, die Anstiftung zur Magersucht unter Strafe zu stellen – eine Regelung, die insbesondere auf Pro-Ana-und Pro-Mia-Websites abzielt. Das Idealisieren und Propagieren extremen Untergewichts soll dort künftig mit Geld- und Gefängnisstrafen belegt werden.

Haben Blogs und Foren zu Pro Ana auch positive Seiten?

Wie sinnvoll die Verbote von solchen Seiten sind, ist jedoch unklar. Eine 2011 veröffentlichte Studie an der Universität Köln ging den Fragen nach, wer Pro-Ana-Foren aus welchen Motiven nutzt und welche Auswirkungen die Mitgliedschaft auf den Wunsch nach Gewichtsreduktion, Therapiebereitschaft und das psychische Wohlbefinden der Nutzerinnen hat.

Zwar gaben die Studienteilnehmerinnen beispielsweise mehrheitlich zu, durch den Besuch der Pro-Ana-Foren weniger gegessen und ihre sportliche Aktivitäten gesteigert zu haben. Allerdings stellten die Kölner Wissenschaftler auch positive Auswirkungen der Pro-Ana-Seiten fest. "Menschen mit ähnlichen Problemen und Gedanken kennenzulernen", "weil mich sonst niemand versteht" und "um andere bei Problemen zu unterstützen" waren die Motive für den Besuch von Pro-Ana-Seiten, die am meisten bestätigt wurden. Außerdem fühlten sich die Nutzerinnen weniger einsam.

Die besonders extreme Einstellung "Ana 'til the end", das Festhalten an der Magersucht bis in den Tod, lehnten rund 70 Prozent der Studienteilnehmerinnen stark ab. Alles in allem sehen die Autoren der Studie aufgrund der Ergebnisse keinen pauschalen Anlass, Pro-Ana-Foren gesetzlich zu verbieten.

Gesunde lassen sich von Pro Ana eher nicht beeinflussen

Eine Einschätzung, die eine weitere, 2011 in einer Dissertation veröffentlichte Studie bestätigt. Ziel war es, herauszufinden, ob man sich im Internet mit Essstörungen "anstecken" kann.  Die Studie gibt weitgehend Entwarnung: "Für die Mehrheit der jungen Frauen hat ein kurzer Kontakt wahrscheinlich keine weiteren schädlichen Auswirkungen", lautet das Ergebnis.

Bei nicht Magersüchtigen löste das Lesen der Pro-Ana-Blogs eine negative Stimmung aus, die als "natürliche Reaktion auf die als befremdlich und schockierend erlebten Inhalte angesehen werden". Wer allerdings ein erhöhtes Risiko für eine Essstörung hat – das sind laut Studie etwa 30 Prozent der potenziellen Leserschaft – zeigte sich anfälliger für eine schädliche Wirkung der Pro-Ana-Seiten. Das gelte aber auch für Selbsthilfe-Webseiten zum Thema Magersucht.

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